Der Humanist als der Vielwissende liebt die Welt gerade um ihrer Vielfalt willen und ihre Gegensätze erschrecken ihn nicht.
Stefan Zweig, Erasmus
Der hier veröffentlichte Blog textsicht.de versammelt jene Teile meines persönlichen Tage- und Skizzenbuches, die eine besondere Verbindung von Bildern und Texten eingehen. Die Veröffentlichung erfolgt nicht chronologisch, sondern immer dann, wenn ich ein Thema neu bearbeitet habe, auch wenn der ursprüngliche Tagebuch-Eintrag schon länger zurückliegt. Für das Abonnement steht ein RSS-Feed zur Verfügung. Weitere Informationen zur Bedienung finden Sie unter dem Menüpunkt Anleitung.
Der Name textsicht umschließt meine berufliche wie gedankliche Lebensgeschichte. Beruflich bin ich nach einem Studium der Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie in die IT gewechselt. Zu Beginn meiner Computer-Nutzung, in den frühen 80er Jahren, gab es noch keine grafischen Oberflächen. Ein Textverarbeitungsprogramm musste daher mit den eingeschränkten Möglichkeiten eines Terminal-Bildschirms zurechtkommen. Mit der Funktion Textsicht konnte man sich - wenn auch eingeschränkt - das spätere Druckbild eines Textes anzeigen lassen. Die Funktion versuchte also eine Brücke zu schlagen von der technischen Konstruktion eines Textes am Computer zu seiner sinnlichen Wahrnehmung, wenn er zu Papier gebracht werden würde. Es geht mir also um bestimmte Erlebnisqualitäten von Texten und Bildern. Dabei experimentiere ich sowohl mit unterschiedlichen Textformen als auch mit unterschiedlichen Text-Bild-Beziehungen. Ein Beispiel: Ich habe eine ausgeprägte Hassliebe zum hohen Ton. Ich liebe Novalis, Kleist, Hölderlin oder auch Manches an Wagner bis hin zu ihren Syberbergschen Interpretationen. Zugleich aber stößt mich jener sprachliche und bildliche Duktus ab, mit dem die Altvorderen Umgang pflegten, ohne dass es ihnen gelungen wäre, eine Grenze zu den Nazibestialitäten aufrecht zu erhalten - vielleicht auch, weil die Grenzen zwischen beiden eben fließend sind. Also versuche ich immer wieder, den Sprach- und Bildbanalitäten unserer durchkommerzialisierten Medienprodukte zu entkommen, ohne mich hinter einem Sachbuchton zu verstecken.
In meinen philosophischen, textlichen und fotografischen Arbeiten liegt ein methodischer wie inhaltlicher Schwerpunkt in der folgenden Frage: Wenn wir uns gedanklich die Welt mit Begriffen und in Texten erschließen, sie aber sinnlich auf so ganz andere Art in Bildern, Lauten, Berührungen und ihren mannigfaltigen Spiegelungen in unseren Emotionen erleben, was folgt daraus für die Art und Weise, wie wir unser Denken und Handeln leiten? Auch wenn die einzelnen Skizzen mitunter soziale, politische oder technologische Themen aufgreifen, suche ich an dieser Stelle Antworten vornehmlich mit dem Blick des schönen Auges auf die Welt. Damit meine ich die ästhetische Sicht auf die Dinge, welche als eine den Menschen wesentliche Eigenschaft verstanden wird, als eine Haltung zu sich und den Dingen in der Welt, ja schließlich als Bedingung für Humanität. Die Idee ist, dass das schöne Auge die Unterscheidung sucht und die Erkenntnis eines Unterschieds in den Dingen der Welt dem schönen Auge ein Erlebnis ist. Mit den Dingen in der Welt ist selbstredend alles gemeint, was Gegenstand einer Unterscheidung sein kann: Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine, aber auch Handlungen, Kunstwerke oder der Wind in den Dünen. Die Fähigkeit des Unterscheidens und das Erlebnis des Unterschieds wird als Reichtum des Lebens begriffen und erfahren, was selbst dann möglich ist, wenn das Erlebnis verstörend ist, als Schrecken oder als Bedrohung wahrgenommen wird. Während mit Begriffen und in Texten - abgesehen natürlich von ihren eigenen sinnlichen Qualitäten - Unterscheidungen identifiziert werden und unterschiedene Dinge damit unserem Handeln verfügbar gemacht werden, erschließt erst das Erlebnis einer Unterscheidung ihre ganze Bedeutung für unsere Teilhabe an der Welt. Denn das schöne Auge will die Dinge der Welt nicht besitzen oder über sie verfügen, das schöne Auge wird im Erlebnis der Unterscheidung selbst zum Ding in der Welt, zum Teil eines Ganzen.
Sich diesem Blick auf unser Dasein zu öffnen, heißt aber auch, eine Entscheidung getroffen zu haben, die unser Handeln bestimmt. Wir können das Neue, das Unbekannte, das Störende oder Verstörende als Belastung empfinden, vielleicht sogar als Gefahr einschätzen und zu vermeiden suchen. Es ist bequemer, gemütlicher, sicherer sich auf das Bekannte zu beschränken, die Kontrollierbarkeit dem Risiko vorzuziehen. Das schöne Auge jedoch hat sich entschieden, dem Erkennen und Erleben des Unterschieds, des Neuen, des bisher Ungesehenen oder Unerhörten einen eigenen Wert beizumessen. Und wenn sich im Erkennen und Erleben der Unterschiede bei einigen Dingen in der Welt der Wunsch ausbildet, noch mehr zu erfahren und das Erkannte und Erlebte um seiner selbst und anderer willen durch unser Handeln zu erhalten, ja mehren zu wollen, dann ist die Idee der Humanität Wirklichkeit geworden, dann spreche ich von Liebe.
Dieser Blog ist ein Versuch, meine Erfahrungen mit dem Blick des schönen Auges zu teilen.
Hans Georg Peters
München im März 2018
Editorischer Hinweis: Da ich den Blog nur in meiner Freizeit und mit vielen Unterbrechungen bearbeiten kann, schleichen sich leider häufig Fehler ein. Ich bin für jeden Hinweis sehr dankbar und versuche ihnen nachzukommen. Weiterhin sind Fragen zu den Bildern eingegangen. Die Bilder sind, wo nicht anders angegeben, von mir fotografiert und bearbeitet. Es gehört aber zum methodischen und stilistischen Kern des Blogs, keine weiteren Angaben zu den Bildern zu machen, um sie ausschließlich in den Kontext des jeweiligen Textes zu stellen. Aber ich antworte gerne auf Ihre Fragen oder Anregungen zu Texten und Bildern, soweit es mir zeitlich und inhaltlich möglich ist.