München | 20.05.2023 | Der lokale Norden - 2. Teil
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1 | Als vor knapp 20 Jahren Roger-Martin Buergel zum Kurator der Documenta 12 berufen wurde, erklärte er im Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 04.12.2003: Kunst kann kein staatliches Reparaturunternehmen sein, um den Verdammten dieser Erde zu helfen. (...) In diesem Sinne braucht die Kunst Autonomie, nicht als Eigenschaft, sondern als Effekt. Sie muss aber alternative Gesellschaftsentwürfe aufzeigen können. Das scheint mir mit Bezug auf die Documenta 15 auf die entscheidende Frage zu verweisen: Geht es dem Kuratoren-Kollektiv um Autonomie als Eigenschaft der Kunst oder als Effekt? Die Autonomie des Effekts fordert - so mein Verständnis Buergels - nichts anderes als die Autonomie der Ästhetik. Schon Buergel hat in seinen Leitmotiven der Dokumenta 12 das zweischneidige Erbe der Moderne thematisiert, nämlich ihre Verbindung zur Gewaltgeschichte des Kolonialismus wie eben auch so etwas wie einen gemeinsamen Horizont für die Menschheit – ein Leben, das weder durch Differenz noch durch Identität bestimmt ist. Es ist genau dieses Verständnis, dieser universelle Erlebnischarakter des Schönen und die Autonomie des Kunstwerks, die meinen Gang durch Ausstellungen bisher bestimmte. Es folgt somit zunächst ein Protokoll des Scheiterns dieses Verständnisses.
2 | Return to Sender vom Künstlerkollektiv The Nest Collective von 2022 besteht aus einem einfachen quaderförmigen Gebäude aus gepressten Textilballen, welche offensichtlich westlicher Herkunft sind. Um das Gebäude auf der Karlswiese herum sind weitere Ballen von Kunststoffmüll und Altmetall drapiert. Im Gebäude ist dazu eine Art Dokumentation untergebracht. Mir ist das Ganze zunächst nur als ästhetisch plumpe Klage gegen den Müllexport von Nord nach Süd zugänglich. Warum? Ich versuche es vom Begriff des Effekts her zu erläutern. Welche Effekte könnte Kunst ausmachen? Es ist zum Beispiel die Überraschung bis hin zum Schock. Überrascht oder schockiert mich das Werk? Nein, das Problem ist hier, ist uns bekannt. In Reportagen habe ich weit erschreckendere Müllberge westlicher Herkunft gesehen, verwüstete weitläufige Landschaften aus den Resten unseres überbordenden Konsums, Rauchschwaden absondernd, deren beißender Gestank durch den Fernseher zu kriechen schien. Wäre der Müllberg Monumental, vielleicht die gesamte Karlswiese vor der Orangerie auffüllend gewesen, vielleicht hätte dies mich berührt. Auch der Titel ist wenig originell. Denn er wird vom Gegenstand nicht reflektiert. Vielleicht hätten Transportkontainer voll mit diesen Lumpen die Mobilität unseres Mülls sinnlich erfahrbar gemacht - return to sender wäre vielleicht als Drohung spürbar geworden. Ein LKW in Kippstellung oder ähnliches oder ein fortlaufender Prozess des uns vor die Füße kippens von solchen Müllballen, das hätte erlebbaren Zeichencharakter, wenn auch nicht der feinsinnigen Art. Das Müllgebäude indessen wirkte steril, geradezu ordentlich aufgestapelt, ohne Überraschung, ohne Witz. Hätte der Titel der Installation Home Sweet Home geheißen, wäre vielleicht der Zynismus unserer westlichen Lebensart erlebbar geworden, die dazu führt, dass im Süden Menschen auf oder an oder Müllkippen leben. Somit stellt sich die Frage, ob das Künstlerkollektiv sich überhaupt gefragt hat, ob und wie dieses Thema im Norden adressiert werden könnte und um was zu erreichen? Ist es gerade die Banalität der Installation, die ein Bild der Banalität unserer zivilisatorischen Hinterlassenschaften abgeben soll? Aber wird die Banalität sichtbar, erlebbar für uns im Norden? Wird der Überfluss unseres Wirtschaftens sichtbar, wo in den Kik-Filialen die Kalmotten, wenn sie nicht gefallen, einfach auf dem Fußboden landen oder Amazon und Co. täglich unfassbare Mengen an Neuwahren vernichten, weil sie wegen Nichtgefallen zurückgesendet wurden? Sind wir uns im Norden nicht längst alle bewusst, dass es noch viel schlimmer ist, als diese Installation es auszudrücken vermag? Ist es genau dieser Gedanke, den die Installation in uns provozieren will? Aber wäre das Kunst oder nur eine geschickte Pädagogik?.
3 | Wenn ich mich nun einlasse auf lumbung, auf die Praxis des Teilens, des Teilens von Gütern aber auch von Arbeit oder Zeit und Wissen, auf eben eine Praxis, auf Bewegung, Veränderung, auf Leben. Wenn ich mich auf diesen Gedanken einlasse, dann beginnt dieser Block zusammengepresster, jedem Gebrauch entzogener Textilien tatsächlich ein sprechendes, vielleicht auch ein sinnlich erfahrbares Zeichen des Unterschieds zu sein, des Unterschieds zwischen der Erstarrung einer Besitzstandszivilisation und der Lebendigkeit einer Gemeinschaft des Teilens, einer Utopie für uns, und wohl nicht nur für uns. Die Installation selbst, in meiner Sehgewohnheit mit dem Anspruch eines autonomen Kunstwerks betrachtet, verschließt sich mir. Erst der mitgedachte Kontext der Lumbung-Praxis als kuratorisches Leitprinzip, eröffnete mir ein Verständnis und vielleicht wäre auch ein Erleben möglich gewesen, wenn meine Sehgewohnheiten nicht so eingefahren wären, die Erwartung eines aus sich sprechenden Kunstwerks aufgegeben worden wäre. Sicher, diese Erwartung führt immer zu einem begrenzten, vielleicht mangelhaft zu nennenden Zugang. Der Dialog des Werkes mit der Zeitgeschichte, mit der Kunstgeschichte, mit der Biographie des Künstlers, mit vielen weiteren Aspekten erschließt ein Kunstwerk erst vollständig. Darum liegt es mir fern, hier ein Urteil über die Installation zu sprechen. Und hier geschieht auch mehr als sozialistische Agitprop. Aber führt mich die Installation zu lumbung als alternative Gesellschaftsform? Return to sender lädt nicht gerade ein. Hier wird ein Zeichen gesetzt für den Mangel, die Differenz der eigenen Lebenspraxis gegenüber lumbung. Wir wollen Euren Müll nicht. Das bleibt. Die Erfahrung der Erstarrung der eigenen Zivilisation - bleibt vielleicht, aber vergleichsweise blass, bei mir.
4 | Eine weitere Frage stellt sich mir in Auseinandersetzung mit diesem Werk. Sheela Gowdas Installation And Tell Him of My Pain von 1998, ausgestellt auf der Dokumenta 12, wird im Katalog wie folgt kommentiert: Wer es mit Biografischem hält, erkennt in der Kordel eine Nabelschnur und findet Zugang zu einer Geburtserfahrung. Wer es mit politischer Ökonomie hält, erkennt in der Kordel eine Metapher für das Schicksal des indischen Textilhandwerks, das heißt für die Kolonialisierung des Subkontinents durch die East India Company im 18. Jahrhundert. Wer es mit religiöser Mythologie hält, verbindet das offene rote Pigmentpulver mit dem Hinduismus, insbesondere dem Holifest, bei dem sich die Feiernden mit Farbpulver bewerfen (...) (documenta 12, Katalog, S. 262). Ist es nicht essentiell für einen Gegenstand, der ein Kunstwerk sein soll, dass er eine Vielfalt von Interpretationen zulässt, zumindest aber ohne Gebrauchsanleitung auskommen könnte.
Aktualisiert: 22.05.2023
Referenzen:
• Liste: Ästhetik
• Liste: Kunst und Kultur
• Der lokale Norden - 1. Teil | # T20220828