München | 25.07.2022 | Die Fußgängerampel
1 | Leuchten Soweit ich es überblicke, sind Fußgängerampeln in Deutschland zweifarbig. Sie leuchten grün oder rot. Bei Rot sieht man ein stehendes Männlein, bei Grün ein laufendes Männlein, spätestens seit der Wiedervereinigung in verschiedenen Ausprägungen, inzwischen gibt es auch Weiblein und es sollen auch Pärchen und Mainzelmännchen gesichtet worden sein. Es mag weitere Varianten geben und sicher gibt es Ergänzungen der Fußgängerampel um Radfahrerampeln, Versuche mit drei Farben etc.. Ich will hier keine vollständige Studie über Fußgängerampeln in Deutschland präsentieren, mir geht es um etwas Anderes. Dazu komme ich noch. Für meinen Zweck genügt es, über Ampeln zu sprechen, die nur zwei Farben kennen, Rot und Grün. Betrachten wir nun die möglichen Zustände unserer Fußgängerampeln, ich kenne derer drei aus eigener Anschauung: Sie leuchten rot oder grün oder gar nicht. Theoretisch ist es natürlich auch möglich, dass beide Lampen gleichzeitig leuchten, die Ampel würde dann also Rot und Grün zeigen. Es ist auch denkbar, dass die Ampellampen blinken. Aber auch das ist für meinen Zweck unerheblich, es würde nichts Neues dazu kommen, daher bleibe ich bei den drei Zuständen, die ich selbst bei Fußgängerampeln schon beobachtet habe und die Regel sind: Sie leuchten rot oder grün oder gar nicht.
2 | Sprechen Fußgängerampeln scheinen also eine einfache Sache zu sein. Und doch gibt sie viel Stoff her, um über ihre verschiedenen Zustände diskutieren zu können. Betrachten wir zunächst den Fall, dass die Fußgängerampel unserer Erwartung entspricht und etwa alle Minute von Grün auf Rot und wieder auf Grün und so fort ihre Farbe wechselt. Dann sagen wir, die Ampel funktioniert, sie verhält sich normal. Und wir würden uns normaler Weise nur darüber unterhalten, ob wir bei Rot stehen bleiben und nur bei Grün über die Ampel gehen, oder ob wir auch schon mal bei Rot über die Ampel gehen, wenn weit und breit kein Auto in Sicht ist und vielleicht nur dann, wenn auch keine Kinder in der Nähe sind, denen wir ein schlechtes Beispiel abgeben könnten. Und schließlich entstehen in Gesprächen über unser Verhalten zu Fußgängerampeln Sätze wie Nur in Deutschland bleiben die Menschen auf freier Straße an einer roten Ampel stehen. Oder Ich gehe, wenn ich es eilig habe, auch über rote Ampeln, selbst wenn Kinder zusehen. Für deren Verkehrserziehung sind deren Eltern zuständig und nicht ich. Oder Es sollen auch schon Leute an einer kaputten roten Ampel verhungert sein. Oder Spätestens nach zwei Minuten ist meine Geduld am Ende. Dann gehe ich über die Ampel, auch wenn sie noch rot leuchtet. Der letzte Satz bringt zugleich einen weiteren Aspekt unseres Zusammenlebens mit Ampeln ins Spiel, nämlich einen Maßstab für das, was wir für normal halten: Eine Ampel, die mehr als drei Minuten ihre Farbe nicht wechselt, löst bei den meisten Menschen Ungeduld aus. Es gibt meines Wissens auch noch kein Urteil eines Verkehrsgerichts, wie lange man Warten muss, um sanktionsfrei über eine rote Ampel gehen (oder fahren) zu dürfen. Auch das zeigt, das unter der schlichten Oberfläche von Rot und Grün sich Abgründe auftun. Manche halten Fußgängerampeln generell für eine Bevormundung, die nur aus der einseitigen Bevorzugung des motorisierten Verkehrs durch die Politik hervor gegangen ist. Ein Teil derer fordert eine massive Ausweitung der Grünphasen zulasten des Autoverkehrs. Man hört in entsprechenden Diskussionen Begriffe wie Emanzipation, Ungleichbehandlung, politische Einseitigkeit, Notwendigkeit neuer Prioritäten, Ideologieverdacht und so fort. Aber wozu dient diese Betrachtung typischer Diskussionen um den Umgang mit Fußgängerampeln?
3 | Zuhören Nun, eines habe ich noch nie gehört oder gelesen innerhalb solcher Diskussionen, gleich wie engagiert gestritten wurde, nämlich dass jemand behaupten würde, es gäbe nicht nur die Farben Rot und Grün sondern Fußgängerampeln würden auch rosa, lila, blau oder sonst wie leuchten oder würden in fünf verschiedenen Farben leuchten, von denen eine vielleicht auch noch unbestimmbar ist, oder dass es gar keine Farben gibt, in denen Fußgängerampeln überhaupt leuchten würden; mehr noch, dass behauptet würde, dass, solange solche Fakten nicht anerkannt werden, jede Diskussion über Fußgängerampeln unzureichend wäre, denn eine vollständige Diskussion über Fußgängerampeln, die zum Beispiel auch Aspekte des Kinderschutzes oder des Klimaschutzes vollumfänglich berücksichtigt, müsste mehr als zweifarbige Ampeln als Faktum anerkennen. Und dieser Jemand oder diese Gruppe würde entsprechend fordern, dass in wissenschaftlichen Diskussionen Ampeln als - sagen wir der Einfachheit halber - als fünffarbig leuchtend anzuerkennen sind und daher im Verkehrsunterricht wie auch in der Straßenverkehrsordnung entsprechende Änderungen zu erfolgen haben. Dies würde man ggf. auch auf dem Klagewege zu erreichen versuchen. Soweit die Position der - nennen wir sie möglichst neutral - Vielfarbampelvertreter. Wie sagt man in Kontexten mit einer gewissen Regelungstiefe so schön: Aus gegebenem Anlass möchte ich trotz des Umstands, dass mir noch kein Vielfarbampelvertreter begegnet ist, die Frage erörtern, wann wir akzeptieren würden, dass wir uns tatsächlich mit der Behauptung beschäftigen müssen, Fußgängerampeln leuchteten in fünf Farben? Mein Vorschlag lautet, dass wir es dann akzeptieren müssten, wenn ein zwingendes Argument, ein Beweis dafür erbracht werden könnte, dass es bezüglich des Umgangs mit Fußgängerampeln relevante Fälle gäbe, die nur dann erörtert werden könnten, wenn wir akzeptieren würden, dass Fußgängerampeln in fünf Farben leuchteten. Und wir müssen uns kurz auch darüber verständigen, was hier relevant bedeutet: Ein Beispiel für Relevanz wäre die Reduzierung von Unfällen mit Kindern auf Fußgängerampeln oder die Förderung einer aus Klimaschutzgründen notwendigen Verkehrswende um auf die Beispiele zurückzukommen und es nicht zu kompliziert zu machen.
4 | Behaupten Ich will - aus gegebenem Anlass - zunächst die Situation betrachten, in der Vielfarbampelvertreter gar nicht mehr bereit wären, solche Beweise anzutreten, sondern schlicht auf der Tatsache der fünffarbigen Ampel bestehen würden und jede Diskussion und jeden Diskutanten, der die fünffarbige Ampel nicht anerkennt von vorn herein ablehnen. Welchen Status hätten ihre Aussagen in diesem Fall und welche Wege könnte man ihnen trotzdem für die Durchsetzung ihres Anliegens eröffnen. Man könnte erstens von einem Glauben sprechen. Glaubensüberzeugungen werden durch das Zeugnis von Erleuchteten, Heiligen oder sonstigen Führungsfiguren autorisiert und benötigen keine Beweise im wissenschaftlichen oder rechtlichen Sinne. Es besteht allerdings - noch immer - der Konsens, dass niemand gezwungen werden kann, einen Glauben zu übernehmen. Inwieweit der Vielfarbampelglaubensgemeinschaft jedoch Einfluss auf den schulischen Verkehrsunterricht oder die Straßenverkehrsordnung gewährt wird, wäre zu bemessen an ihrer Zahl und gesellschaftlichen Bedeutung. Die Hürden dazu sind in einem säkularen Staat extrem hoch, wie das Beispiel der recht exklusiven Konkordate der christlichen Kirchen zeigt. Gehen wir zweitens statt dessen davon aus, dass wir es mit einer politischen Gruppierung zu tun haben, den Anhängern einer Vielfarbampelpartei. Wieder wären Beweise für die Existenz von fünffarbigen Ampeln nicht unbedingt notwendig, weder wissenschaftliche noch rechtliche. Die Partei müsste, um Verkehrserziehung oder Straßenverkehrsordnung ändern zu können, nur eine ausreichende Mehrheit in den Länderparlamenten bzw. im Deutschen Bundestag erzielen. Es mag weitere Möglichkeiten geben, den Vielfarbampelvertretern außerhalb eines wissenschaftlichen oder rechtlichen institutionellen Rahmens zur Durchsetzung ihrer Überzeugung in Verkehrserziehung und Straßenverkehrsordnung zu verhelfen, ich will es aber dabei belassen und statt dessen betrachten, wie ein Beweis aussehen könnte und wie man die Vielfarbampelvertreter dazu motivieren könnte, die Beweisnotwendigkeit anzuerkennen. Dabei blende ich die Möglichkeiten diskursiver Steuerungsmacht (z. B. durch Einladungen oder Ausladungen zu wissenschaftlichen Diskussionsrunden oder durch Akzeptanz oder Ablehnung der Klagemöglichkeit bei Gerichten) aus ebenso wie die Macht, Regeln zu brechen (beispielsweise durch Blockieren der Diskussionsräume, Niederbrüllen der Diskutanten oder sonstige Gewalt und Terror). Zunächst will ich überlegen, wie die Vielfarbampelvertreter überzeugt werden könnten, die Notwendigkeit eines Beweises im oben genannten Sinne zu akzeptieren. Ohne Beweis wäre zum Beispiel ein Irrtum über die wahre Eigenschaft von Fußgängerampeln möglich, der dazu führen könnte, dass Verkehrsteilnehmer und insbesondere Kinder zu schaden kommen könnten. Unfälle würden zudem den Verkehr blockieren und noch mehr CO2-Emissionen erzeugen. Ohne Beweis würden sich Gegner auf die Willkürlichkeit der Durchsetzung der Behauptung einer fünffarbigen Ampel berufen können. Die Akzeptanz würde also leiden und ein Dauerkonflikt wäre wahrscheinlich. Umgekehrt würde ein Beweis der Existenz einer fünffarbigen Ampel den Irrtum ausschließen und die Akzeptanz deutlich erhöhen und eine Durchsetzung dieser Beschreibung einer Fußgängerampel und der damit verbundenen Ziele der Vermeidung von Unfällen mit Kindern oder des Klimaschutzes erheblich fördern.
5 | Beweisen Wie also könnte ein zwingendes Argument, ein Beweis aussehen, der uns überzeugen müsste, dass Fußgängerampeln in fünf Farben leuchteten? Ich mache vier Vorschläge, die als Muster für mögliche Beweisführungen dienen sollen: Erstens könnte jemand feststellen, dass es im Umgang mit Ampeln Regeln gibt, die fünf Farben zwingend voraussetzten. Ähnlich wäre ein Argument, dass nachweist, dass nur, wenn man fünffarbige Ampeln annimmt, das Verhalten der Verkehrsteilnehmer zu erklären ist. Mein dritter Vorschlag lautet, dass man versuchen könnte zu argumentieren, dass nur, wenn man fünffarbige Ampeln annimmt, eine oder einige der oben genannten Debatten zu entscheiden sind, zum Beispiel ob man immer nur bei Grün über die Ampel gehen soll. Schließlich könnte man nachzuweisen versuchen, dass nur, wenn man fünffarbige Ampeln annimmt, man eines oder einige der oben genannten Ziele erreichen kann, zum Beispiel einen verbesserten Schutz der Kinder im Straßenverkehr oder einen verbesserten Klimaschutz durch Verminderung von CO2-Emissionen.
6 | Beschreiben Wenn aber keine dieser oder anderer Beweise erbracht werden könnte, hätte ich einen letzten Vorschlag, ins Gespräch zu kommen, nämlich zu überprüfen, ob es wirklich zwingend ist, die Existenz fünffarbiger Ampeln anerkennen zu müssen oder ob es ausreicht, Ampeln nur als fünffarbig zu beschreiben, egal über wieviele Farben oder einfarbige Lampen sie tatsächlich verfügen. Auch hier gilt, ob man sich erstens auf Ziele einigen kann, deren Erreichung eine solche Beschreibung notwendig machen und zweitens, ob die Beschreibung einer fünffarbig leuchtenden Ampel der Erreichung dieser Ziele dient. Aber wir wären befreit von der Last, einen Beweis für die Existenz fünffarbiger Ampeln einfordern oder erbringen zu müssen.
© Hans Georg Peters | texsicht.de | 27.07.2022 |