Im Oberland | 23.01.2022 | Die Privatkapelle
0 | Während der Arbeit an Veröffentlichung dieses Tagebucheintrags überfällt Russland die Ukraine. Der Patriarch der Russisch Orthodoxen Kirche schweigt dazu. Dringender denn je stellt sich die Frage nach der Liebe in den christlichen Kirchen.
1 | Der Sonntagsspaziergang begann an einer kleinen Privatkapelle, die hinter dem Zaun eines bäuerlichen Anwesens unzugänglich gelegen war. Die Kapelle sah vernachlässigt aus und auch der ganze Weg durch eine verschneite Landschaft unter grauem Himmel stand unter dem Eindruck drückender Einsamkeit. Meine Wahrnehmungen waren vermutlich dunkel eingefärbt, nämlich von der Lektüre eines weiteren, soeben veröffentlichten Gutachtens zum sexuellen Missbrauch durch Kleriker, diesmal im eigenen Bistum, in München und Freising, sowie der dort ebenso veröffentlichten Reaktion des ehemaligen Kardinals und ehemaligen Papstes, Ratzinger. Was ich dort las hätte in mir die helle Empörung auslösen müssen. Aber ich empfand zunächst - nichts. Zwei Aussagen dieses Mannes dominierten: Er habe davon nichts gewusst, und in dem einen Fall, in dem er etwas mitbekommen habe, war der Kleriker nach kirchlichem Recht nicht zu verurteilen gewesen, denn die Entblößung seines Gliedes und die Masturbation vor den Augen der Mädchen geschah, ohne die Mädchen körperlich zu berühren, somit hätte kein Missbrauch vorgelegen. Die Begründung wurde in der 82seitigen Stellungnahme schon in der einleitenden Betrachtung kirchenrechtlich umfassend vorbereitet und im weiteren Verlauf penibel ausgeführt. Natürlich distanzierte sich Ratzinger in seiner Stellungnahme in aller Form vom Geschehen und bekräftigte, dass aus heutiger Sicht das Verhalten des Klerikers abzulehnen sei. Aber er habe in seiner damaligen Funktion und auf der Grundlage der damaligen Rechtslage nichts falsch gemacht. Nun ist es ein Leichtes, auf diesen Mann trotz seiner über 90 Jahre mit purer Verachtung zu blicken, denn er bekräftige zu Beginn seiner Stellungnahme auch, dass er ein sehr gutes Gedächtnis habe und die Komplexität seiner Verteidigung lässt mutmaßlich auf einen weitgehend klaren Verstand schließen, auf ein klares Bewusstsein darüber, was er in seiner Stellungnahme tut und was er unterlässt - die Tagespresse und erste Stimmen auch aus der Kriche und über Deutschland hinaus waren in ihrem Urteil weitgehend einig. Aber in mir herrschte nur eine tiefe Leere, die in den folgenden Tagen in Traurigkeit und Resignation mündete, und in Mitleid für einen alten Mann, der, so empfinde ich es, nicht lieben kann und vielleicht nie lieben konnte.
2 | Es ist von außen betrachtet, und meine Kirche sorgt sehr dafür, dass man sie nur von außen betrachten kann, wohl so, dass der Klerus in mehrere Lager zerfallen ist. Da sind zum Beispiel die, die sich hinter kirchenrechtlichen und theologischen Konstruktionen verschanzen und auf alle mit Verachtung niederschauen, die aus ihrer Sicht in dieser Materie nicht kompetent sind. Dann gibt es eine Gruppe Kleriker, die offensichtlich an ihrer Kirche verzweifelt, aber ebenso gefesselt ist durch die Regeln der Institution. Es gibt die mehr um die Einheit der Kirche als um ihre Opfer Besorgten und umgekehrt. Es gibt die, die etwas tun um des Tuns willen, vielleicht, um sich bewusst oder unbewusst zu entlasten und die, die tatsächlich begriffen haben, dass sich etwas ändern muss, will unsere Kirche nicht untergehen. Was es aber nicht gibt, was ich vielleicht auch nur nicht zu erkennen vermag, weil es eben so verborgen gehalten wird, ist ein Handeln aus Liebe und aus nichts anderem als Liebe zum Nächsten. Und ja, eine solche Erwartung ist nicht realistisch, aber das Ausmaß des Enttäuschens dieser Erwartung ausgerechnet durch große Teile des Klerus und insbesondere des hohen Klerus steht im grellen Widerspruch zum eigenen Selbstverständnis ihrer Sonderstellung als Inhaber eines Weiheamtes in der Nachfolge Christi.
3 | Ich frage mich daher, wie es möglich ist, dass eine Kirche, deren Glaubensmitte das Liebesgebot ist - so hat es gerade auch der Papa emeritus Benedikt XVI. in seiner ersten Encyklika Deus caritas est herausgestellt -, sich so lieblos im unmittelbaren Handeln vieler ihrer Kleriker zeigt, ja umso höher sie in der Hierarchie stehen, desto kälter erscheint ihr Handeln. Auf der Suche nach einer Antwort mit Blick auf die Kirche, notwendig von außen betrachtet, von unten, von jenseits der kirchenrechtlichen und theologischen Stützkonstrukte, mit denen meine Kirche sich über Jahrtausende hochgerüstet hat, ist mir zuerst dies zugefallen: Es gibt zwei Gründungserzählungen der christlichen Kirchen: Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen (MT 16,18). Die Kirche Christi gründet also auf das Amt, auf Nachfolge im Amt, so die Auslegung meiner Kirche. Dagegen gibt es aber auch noch diese Worte: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter Euch (MT 18,20). Keine Amtsfolge, sondern eine unmittelbare Nachfolge begründet Kirche, ist Kirche. Und die Antwort könnte etwas mit diesem zwar begrifflich nicht notwendigen, aber historisch wohl doch fundamentalen Unterschied des kirchlichen Selbstverständnisses zu tun haben und konkretisiert die Frage wie folgt: Welches Selbstbild hat welchen Einfluss auf das Begreifen des Liebesgebotes für das Handeln der Kirche. Nun ist es dieser Tage ein leichtes, das Scheitern der auf die Autorität der Nachfolger Petri bauenden Amtskirche festzustellen und auf die, auf den ersten Blick einfache, persönliche und direkte Nachfolge zu setzten. Schaut man sich jedoch an, wer sich alles zum Beispiel in den USA christliche Kirche oder Gemeinde oder Prediger nennt und welch unfassbaren Unsinn im Namen Jesu von sich gibt, dann muss man schon sehr optimistisch sein, dass nach dem Ende der Klerikerkirchen und vor allem meiner, der römisch katholischen Kirche, das Heil über uns herein brechen wird. Aber was genau in der Kirche, in meiner Kirche geht fehl? Vielleicht gibt ein Blick in Deus caritas est einen Hinweis auf die Ursache und damit auch auf eine mögliche Lösung, nämlich eine Theologie der Liebe, die idealerweise so klar in Worte gefasst ist, dass Kleriker kein Kirchenrecht benötigen, um zu einem menschlichen Miteinander zu finden und die eben in der Encyklika gerade nicht anzutreffen ist - was an anderer Stelle noch gezeigt werden soll. Die Hoffnung auf eine solche Theologie ist vermutlich naiv, so naiv wie die Bergpredigt.
© Hans Georg Peters | texsicht.de | 05.03.2022 |