München | 27.11.2020 | Aus dem Nebel






1 | Der November schafft Klarheit. In den kommenden Tagen werden auch die letzten Reste heißer Luft, die der bedrückende Sommer zurückgelassen hat, von einem klirrend kalten Winterwind fortgeblasen werden. Die Nebelschwaden, die durch das Aufeinandertreffen unterschiedlich temperierter Luft- und sonstiger Mengen entstanden sind, werden sich auflösen, wie so manch andere Hinterlassenschaft des zu Ende gehenden Jahres.


2 | Die vergangenen Monate, vom Frühling an bis in den Herbst hinein, waren gezeichnet vom Ansturm eines pandemischen Albtraums. Die Zahl der Opfer wuchs täglich, einige trafen die Folgen direkt, alle jedoch die Wucht der Abwehr, die in größter Eile und mit vielen Wendungen einem neuen, vollkommen unbekannten und für nicht wenige tödlichen Gegner standzuhalten versuchte. Und noch etwas war zu beobachten, das so erstaunlich wie letztlich nicht unerwartet war: Es klagten die am lautesten, ja sprachen vom Untergang, die am wenigsten zu leiden hatten, und die, die wirklich litten, taten dies zumeist im Stillen.


3 | Aber es gab auch Ermutigendes, viel Ermutigendes: Bei allen Schäden, trotz der großen Zahl der Opfer, zeigte der Planet und seine vielgestaltigen Gemeinschaften insgesamt eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit, eine stoische Gelassenheit. Ja, die Wunden waren tief und werden noch lange nicht verheilt sein. Doch der breite Strom des Lebens floss einfach weiter. Und auch hier begegneten sie entschlossen mit immer neuen Ideen der so nie da gewesenen Plage. Viele stützten einander, manche verausgabten sich bis an die Grenzen des Erträglichen und darüber hinaus. Und wieder war zu vermerken, diese klagten am wenigsten.


4 | Jene aber, die verwirrt umherstanden und mutlos piensten und nicht weiter sehen konnten, als in ihre eigene Dunkelheit, sie sind schon jetzt zu bedauern, in diesen letzten Novembertagen, bevor der Winter das unselige Jahr zum Abschluss bringt. Wohin werden sie sich wenden, wenn sich der Nebel verzogen hat, wenn im kommenden Frühling das Leben zurückkehrt und ihre Jämmerlichkeit nur noch die Verachtung der Vielen verdient, die ruhig und geradlinig ihren Weg gegangen sind, der Katastrophe des dann vergangenen Jahres mit Umsicht und mit Zuversicht getrotzt hatten. Wie werden sie sich winden, bloßgestellt vom braunen Dreck, der an ihren Füßen haftet, erbärmlich in der Maßlosigkeit ihrer Klagen.


5 | Doch genug, auch die liberale Gemeinschaft, hier, aus der die Verzagten hervorgekrochen kamen, kennt den Irrtum, weiß mit ihm umzugehen. Es ist ihr eigen, zu helfen, wo man sich nicht selbst helfen kann. Sie versucht die Türen offen zu halten, solange es möglich ist. Darüber hinaus aber wird abzustoßen sein, was zu keiner Erkenntnis fähig ist oder wenn sie zu spät kommt. Sollen sie also zu rascher Einsicht gelangen, die verirrten Gestalten. Denn dieses unselige Jahr könnte der Beginn einer neuen Epoche sein, einer Epoche, in der es für Nachsicht vielleicht kaum noch Zeit geben wird.


© Hans Georg Peters | texsicht.de | 29.11.2020 |