München | 26.05.2019 | Forever Young
T20190526






1 | Am Tag der Europawahl, nach dem Urnengang, fuhr ich in die Stadt, um die Jubiläumsausstellung anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Museums Brandhorst, mit dem Titel Forever Young, zu besuchen. Die Leitassoziation meines Tages war somit, das Europa, wie auch die Kunst der letzten Jahrzehnte, nicht erwachsen werden kann. Die Frage, die sich mir stellte, war, ob dies ein Vorteil oder ein Nachteil ist. Die der (ewigen) Jugend eigentümliche Desorientierung, die, meiner Wahrnehmung nach, die Kunst der letzten Jahrzehnte genauso auszeichnet, wie den Zustand Europas dieser Zeit, läuft eher nicht in die Gefahr, sich in falschen Gewissheiten zu verpanzern. Sie ist aber auch Ursache für eine um sich greifende Verunsicherung gerade der älteren Semester, und diese nehmen anteilig – zumal in unseren Breiten der Demographie geschuldet - stetig zu. Die Aufgabe, die daraus zu resultieren scheint, lautet, die der Desorientierung inhärente Offenheit als etwas überaus Nützliches auszuweisen.


2 | Nun ja, nützlich? Zunächst einmal ist Desorientierung ein Zustand, den man möglichst schnell überwinden möchte. Es gibt sicher Ausnahmen, unter Alkoholeinfluss hat Desorientierung wohl manchmal etwas Befreiendes. Ein gewisser Herr Strache hat uns das jüngst eindrücklich vorgeführt. Ich vermute, die Weisheit, die in dem Statz in vino veritas steckt, hängt damit irgendwie zusammen. Aber in der Regel wollen wir orientiert sein. Und darin liegt meines Erachtens auch schon ein erster Vorteil dieses Zustands: Er fordert uns zum Handeln auf. Man macht es sich ungern bequem in seiner Desorientierung (wie gesagt, von Ausnahmen abgesehen), sie motiviert, den Zustand zu verlassen. Und in dem Bemühen, diesen Zustand zu überwinden, sind wir nicht selten gezwungen neue Wege zu finden, neue Wege auszuprobieren, die keine Chance bekommen hätten, sähen wir uns nicht gezwungen, aus dem ungemütlichen Zustand herauszufinden. Wer aber neue Wege sucht, gibt dem Zufall eine Chance. Und wie mächtig der Zufall sein kann, hat uns die Evolution gelehrt. Desorientierung ist also so etwas wie der Antrieb einer geistigen Evolution. Wenn wir neue Wege suchen oder uns auf neuen Pfaden bewegen, wird zugleich unsere Wahrnehmung geschärft. Ausgetretene Wege gehen wir häufig unbewusst, gedankenverloren, aber neue Wege fordern unsere Aufmerksamkeit, womit ein weiterer Vorteil der Desorientierung erkannt wäre. Nun mag aber unsere Desorientierung von solchem Ausmaß sein, dass wir alleine partout keinen Ausweg finden. Sich von der Desorientierung abzuschirmen geht nicht, denn sie ist kein äußerer Zustand, sondern ein innerer. Auch sind Zäune, Mauern, Grenztruppen wenig hilfreich. Dann aber hilft nur Kooperation und Kooperation setzt Kommunikation voraus. Wir müssen also raus aus der Komfortzone, aus der Isolation, der Selbstgefälligkeit, der Selbstgenügsamkeit, wir müssen um Hilfe bitten oder haben, sobald wir die Desorientierung überwunden haben, die wunderbare Möglichkeit, selber zu helfen. Desorientierung scheint mir etwas Wunderbares zu sein.


3 | Europa, ist sein wahres Wesen etwa, ein Gesamtkunstwerk der Moderne zu sein?


© Hans Georg Peters | texsicht.de | 29.05.2019 |