München | 07.06.2018 | Das Schlossgespenst






1 | Gespenster


In frühen Kindertagen fühlte ich mich Gespenstern in durchaus widersprüchlicher Weise verbunden und diese Verbindung war wesentlich geprägt durch Otfried Preußlers wunderbares Kinderbuch Das kleine Gespenst. Viele Male hat mein Vater mir das Buch vorlesen müssen und stets hat meine Fantasie Charakter und Geschichte des kleinen Gespenstes noch lebendiger ausgemalt. Am Anfang war ich unsicher, ob es sich wirklich um ein freundliches Gespenst handeln würde, wie es die Zeichnungen auf dem Umschlag und im Buch auf den ersten Blick erwarten ließen. Aber schon nach der ersten Lektüre war ich mir gewisss, dass das Gespenst harmlos war. Es folgten Begegnungen, in denen ich nur auf die Möglichkeiten blickte, die dem kleinen Gespenst durch seinen magischen Schlüsselbund gegeben waren und in meinen Tagträumen zahlreiche Fortsetzungen fand: Ich drang in nachbarliche Wohnungen ein, öffnete die Türen zu unerreichbaren Orten wie dem geheimnissvollen Abstellraum im Keller des Kindergartens, der mutmaßlich voller Spielzeug war. Schließlich aber schob sich ein anderer Aspekt seiner Existenz in den Vordergrund. Es war die Geschichte des Uhus Schuhu, der, von der aufgehenden Sonne überrascht und geblendet beinahe den Tod gefunden hatte, die mir klar machte, dass auch das kleine Gespenst eine sehr einsame Existenz führte, denn es war an die nächtliche Geisterstunde gebunden. So wie das Sonnenlicht den Uhu blendete und ihn seinen Feinden, den schwarzen Raben gegenüber wehrlos machte, so verwandelte die Sonne das weiß leuchtende kleine Gespenst in eine schwarze Spukgestalt. Preußler beschrieb das kleine Gespenst mit den Worten, es sei leicht, wie ein streiflein Nebel. Mit nur zwei Worten konnte er die komplexen Eigenschaften dieser Geisterwesen in ein Bild bringen: ihre unsicheren Konturen, ihr Erscheinen aus dem Nichts und ihr Verschwinden und das Gefühl der Klälte, das sich in Ihrer Gegenwart einstellt und ihrer wesensmäßigen Einsamkeit einen uns tief beunruhigenden Ausdruck verleiht. Denn es ist nicht nur ihre unstete Existenz, sondern die Vergeblichkeit, mit ihrem Spuk je mehr erreichen zu können als Ablehnung, die sie vom Leben im Schloss isoliert. Ihr Erscheinen löst zwar Schrecken aus, aber ein erfüllender Austausch mit den Schlossbewohnern ist ihnen verwehrt. Ihr erscheinen ist rätselhaft, die Deutungen bleiben vage und in ihrer Unbestimmtheit verstärkt sich das Bedrohliche ihrer Erscheinung. Selbst ein Gespenst mit guten Absichten ist diesem Schicksaal ausgeliefert, denn die Beschränkungen seiner Existenz verbergen seine Motive auf unüberwindbare Weise. Darin steck natürlich auch das anarchistische Potential seiner Lebensweise. Es ist der Widerspruch jedweder Normativät, denn eine normative Existenz bedarf des sozialen Zugriffs, dem sich ein Gespenst vollkommmen entzieht, sonst wäre es ja kein Gespenst. Es negiert die Bindung der Individualität an materielle Voraussetzungen, an Kommunikation, Interaktion. Sein Wirken ist stets einseitig. Es erscheint, reagiert aber nicht auf die Wirkungen seines Erscheinens. Und in seinem Erscheinen muss ein Moment der Überrasschung liegen. Sicher, im Verlaufe von Gespenstergeschichten werden diese Eigenschaften zumeist aufgehobten, das Gespenst muss erlöst werden. Aber dies bestätigt ja nur die notwendigen Eigenschaften eines Gesprenstes.



2 | Schlösser


Herrscherhäuser, Burgen und insbesondere Schlösser sind demgegenüber so etwas wie das Gegenteil einer unterbestimmten Seinsart. Sie sind Stein gewordene Expression einer Identitätsbehauptung, sind unbezweilbare Zechen eines Herrscherwillens, eines Machtanspruchs, von materiellem Reichtum, von Konzentration dieser Merkmale in einer Person. Sie sind Beglaubigung der zeitüberschreitenden Gültigkeit dieser Selbstzuschreibungen. Und in der schieren Fülle dieser Attribute transzendiert das Zeugnis, das ein Schlossbau über seinen Erbauer ablegt eben diesen selbst und ist Dokument einer Gottgegebenheit dieser einen Existenz. Ihre äußere Form ist immer zugleich Zitat beglaubigter Vorläufer und Überbietung derselben. In ihrer Zitathaftigkeit schreibt sich der Schlossherr in das Stammbuch anerkannter Autoritäten ein. Die Ausstattung eines Schlosses wiederholt dieses Motiv manigfaltig. Aber das Zitat, der Ausweis des Geburtsrechts allein ist unzureichend für eine vollständige Herrschaftserzählung. Erst die Schlosserweiterung, besser die eigenen Schlossbauten beglaubigen individuellen Anspruch, beweisen, dass nicht nur eine Herrschaftslinie im Recht steht, sondern das eine Individuum. Es reicht eben nicht, nur eine Leistungs zu bringen, auf dem Schlachtfeld, in der Verwaltung oder im Bett. Nein, es braucht das allseits sichtbare Monument, ein Zeichen alles bisherige überbietender Materialität und in seiner Materialität Ausweis überbordenden Überflusses. Nicht nur ein Mehr an allem, sondern ein Zuviel. Nicht die Notwendigkeit bestimmt Gestalt und Ausbau eines Schlosses, sondern die Freiheit des Willens. Es ist ein Gefäß zu keinem anderen Zweck, als Gefäß zu sein, aber nicht Gefäß für einen bestimmbaren Inhalt oder Nutzen. Es ist Form um der Form willen. Und in Allem ist es Ausdruck des einen Willens. Daher ist es auch unerheblich, ob sein Erbauer eine relevante Zeit in seinem Schloss tatsächlich gelebt hat oder die Fertigstellung seines Monunments auch nur erlebt hätte. Schlösser erfüllen keinen Wohnzweck, jedenfalls nicht primär.



3 | Gespenster und Schlösser


Gespenster sind wohl an keinem anderen Ort mehr fehl am Platze als in ihren bevorzugten Behausungen, in Herrscherhäusern, Burgen und in Schlössern. Mit ihrem Wesen negieren sie alles, wofür ein Schloss steht. Zugleich aber sind sie durch ihr persönliches Schicksal an den Ort gebunden, dem sie besser nie begegnet wären: Hier wurden sie ermordet oder mordeten selbst. Hier lebten sie zuvor, hatten eine herausgehobene Rolle, einen privelegierten Anspruch auf das Leben im Schloss und haben alles in einem Akt des Unrechts verloren. Und in vollkommener Umkehrung des menschlichen Schicksals ist diese vergangene Zeit unserer Gegenwart ihr Jenseits und ihr Diesseits ist uns Gegenwart des eigenen Jenseits. Ihre paradoxe Erscheinung stellt damit alles in Frage, für das ein Schloss steht. Jede Ordnung, jedes Zeugnis, jeder Versuch, durch die noch so erlesenste Materialität die Beständigkeit der Verhältnisse einer Herrschaft zu manifestieren wird negiert. Keine Wand kann aus härterem Stein, kann massiv genug sein, um sie daran hindern zu können, sie ohne geringste Anstrenung zu durchwehen. Ihr Zerstörungswerk an der baulichen Manifestation des Herrscherwillens ist deswegen so vollkommen, so total vernichtend, weil das Schloss in seiner Widerstandslosigkeit eben vollkommen unberührt bleibt. Das Gespents übernimmt die Herrschaft, ohne sich Zutritt verschaffen zu müssen, denn es ist einfach da. Sein Erscheinen ist in seiner Voraussetzungslosigkeit unangreifbarer Beweis der Rechtmäßigkeit seines Anspruchs, wie umgekehrt das Schloss noch im entlegendsten Winkel als Bild des unermesslichen Aufwands, das Privileg des Herrschers zu beglaubigen, nun eben Monument der Vergeblichkeit dieses Aufwands ist. Und die einzige Hoffnung des Bauherrn, dessen Volk soviele Opfer gebracht hat, um das Schloss zu errichten, ist, dass das Gespenst erlöst wird.



4 | Das Schlossgespenst


Ich hätte es mir nicht träumen lassen, jetzt, wo meine eigenen Kinder schon lange keine Gespenstergeschichten mehr hören oder lesen wollten, erneut von einer Gespenstereschichte selbst so gefesselt zu sein, wie ich es einst vor sehr vielen Jahren war. Diesmal ist es die Geschichte des großen Gespenstes. Es spukt durch ein kleines Schloss, das aber seines Zeichens Symbol vollkommener Macht ist in der ganzen Welt. Am Tag, an dem das große Gespenst erstmals im Schloss erschien, mochte niemand glauben, was er oder sie gesehen und zumal gehört hatten. Das große Gespenst blies ständig die Backen auf, doch aus seinem kleinen rosigen Mund kam - nichts. Jedenfalls nichts, was man verstehen konnte. Sprach es eine Drohung aus, so folgte mit dem nächsten ausgeblähten Wortschwall vielleicht ein Lob oder ein Eigenlob. Überschwemmte es die Hallen des Schlosses mit dem glanz höchster Anerkennung und Wohlwollens, so konnte recht unmittelbar dunkelste Verdammung folgen. Es verschwand im rechten Flügel des Schlosses und tauchte plötzlich im linken wieder auf. Es tanze nachts auf dem Dach und erschrak mit seinem unfassbar lauten Geheule noch die Menschen in Ländern, die weit, sehr weit hinter den Grenzen und den Wassern lagen, die das Schloss umgab. Dann wieder konnte man es Stundenlang vor einem Spiegel verharren sehen. Aus seinen Grimassen zu schließen, die es dem Spiegel zeigte, schien es sich in den unterschiedlichsten Spukgestalten üben zu wollen: als mächtiger König, als reicher Kaufmann, als grässlicher Feldherr oder als zutiefst beleidigtes Kind. Dann, wenn es sich für eine Rolle entschieden zu haben schien, brauste es tobend durch das Schloss, schlug wild umsich, stieß die Büsten der früheren Schlossbesitzer mit hämischem Lachen von ihren Sockeln und stellte statt diesen wohl eigenhändig angefertigte Darstellungen seiner selbst darauf, in Stein gehauene Varianten seiner grimassierenden Spiegelbilder. Gerne fuchtelte es mit großen Folianten herum, auf denen es zuvor in rasender Wut die immer gleichen schwarzen Zeichen aufbrachte. Und ähnlich, wie es einst dem kleinen Gespenst erging, war ihm das Spukschloss nicht genug. Es tauchte an den unterschiedlichsten Orten auf. Es folgte stets dem gleichen Spukritual: Es schlug unvermittelt den Menschen auf den Rücken oder stob von hinten durch eine Menschenmenge, so dass nur rasches ausweichen einen Sturz verhindern konnte. Es blies die Backen auf und wieder ergoss sich ein Schwall wirrer Worte. Danach steckten die Menschen die Köpfe zusammen und versuchten die Erscheinung zu deuten. Doch so länger nun dieser Spuk ein ums andere Mal auftaucht und wieder verschwindet, fragen sich die Menschen immer weniger, was er bedeuten mag, sondern nur noch, was dieses arme große Gespenst wohl erlösen könnte von seiner Pein.


© Hans Georg Peters | texsicht.de | 09.08.2018 |