München | 15.02.2018 | Der Pfau und die Fische






1 | Wer bin ich und wenn ja, warum?


Wer entscheidet, wer ich bin? Meiner Vermutung nach würden die meisten Menschen darauf antworten wollen, ich selber. Aber wer kann sich das so zugestehen? Gefragt ist hier, wer meine Identität bestimmt. Nun, wenn die Summe der Eigenschaften einer Person ihre Identität bilden, dann ist schnell erkennbar, dass wir nur auf einen Teil dieser Eigenschaften Einfluss haben. So sind viele Merkmale unserer körperlichen Verfassheit, wie Augenfarbe, Größe oder Lungenvolumen angeboren und können nicht oder nur wenig verändert werden. Und selbst im Kernland unserer Freiheit, unserem Wünschen und Wollen, die wesentlichen Anteil an unserer Identität haben, scheint viel dafür zu sprechen, dass der Grad unserer Selbstbestimmung Grenzen hat. Und all das ist ein weites Gebiet voller begrifflicher Fallstricke. Mir geht es hier aber nur um einen vermutlich kleinen Ausschnitt daraus, der mir aber zunehmend auffällt: Zu unserer Identität gehört auch unsere Vorstellung von uns selbst, einzelne Selbsteinschätzungen, die in der Summe unser Selbstbild ergeben. Und dieses Selbstbild hat natürlich maßgeblichen Einfluss auf unser Handeln, die Möglichkeiten, die wir uns einräumen, aber auch die Schranken, die wir uns selbst setzen. Was mir aber immer mehr zu denken gibt, sind die Fehler, die uns unterlaufen, wenn wir uns selbst beschreiben. Wir kennen das Phänomen in seiner tragischen Variante bei jungen, zumeist männlichen Fahranfängern. Zu viele scheinen zu glauben, dass die Beherrschung eines Wagens keine Übung braucht. Sie sehen sich selbst als versierte Fahrzeugführer, auch wenn sie außer den Fahrstunden noch kaum Praxis hinter dem Steuer hatten. Das Ergebnis dieses offenkundig mangelhaften Selbstbildes ist bei uns in Bayern durch die vielen Marterl, die die Landstraßen säumen, eindrucksvoll dokumentiert. Marterl sind zumeist kleine Kreuze, die am Ort des Unglücks mit Namen und Datum versehen, aufgestellt werden. Mitunter kann man jahrelang beobachten, dass sie regelmäßig mit Blumen oder anderen Zeichen des Gedenkens geschmückt werden. Natürlich sind in unserem Kontext von diesen Unglücken die Fälle abzuziehen, wo Alkohol die Eigenkontrolle und das Wahrnehmungsvermögen geschwächt haben. Es bleiben aber jedes Jahr leider genügend junge Menschen auf der Strecke, deren Selbstüberschätzung nichts mit akutem Drogeneinfluss zu tun hatte. Etwas hat sie davon überzeugt, anders zu sein, als sie es tatsächlich sind. Andere Beispiele: Es gibt Menschen, die sind davon Überzeugt, handwerklich unbegabt zu sein. Eine Notlage zwingt sie aber zu handwerklicher Arbeit und - oh Wunder - sie entpuppen sich als überaus handwerklich geschickt. Einige Menschen sehen sich ständig als vom Schicksal benachteiligt. Jedes Pech, das ihnen widerfährt, wird mit einem Immer ich! quittiert. Wenn man diese Ärmsten dann darauf aufmerksam macht, dass sie gesunde Kinder haben, ein schönes Haus, trotz fortgeschrittenen Alters noch nie ernsthaft krank waren und so fort, dann ernetet man nicht selten Klage über soviel mangelndes Mitgefühl. Ein weiteres verbreites Beispiel: Jeder kennen Menschen, die partout nicht in die U-Bahn steigen, weil sie sich wegen des sich dort rumtreibenden Volks gefährdet sehen, an Leib und Leben Schaden zu nehmen. Statt dessen wird der PKW genommen, auch wenn hier das Risiko, einem Unglück anheim zu fallen, ungleich höher ist. Zur Identität all dieser bedauernswerten Geschöpfe gehört es, sich überlegen, unbegabt, ungerecht behandelt oder gefährdet zu sehen, mal mit tödlichen Folgen, mal mit der Folge, grundlos in Sorge oder gar unglücklich zu sein. In der Begegnung mit solchen Menschen drängt sich mir die Frage auf, ob sie nur Opfer ihrer selbst sind, oder ob nicht doch andere ihre Hände im Spiel hatten. Ich kenne nicht wenige, denen in der U-Bahn noch nie etwas bedrohliches widerfahren ist, die aber absolut davon überzeugt sind, sie seien dort ein potentielles Gewaltopfer. Wer bestimmt ihre Selbstwahrnehmung, es wäre für sie gefährlich in der U-Bahn? Ich selber zum Beispiel fahre seit bald zwanzig Jahren täglich mit der U-Bahn. Und die folgende Geschichte wäre die gefährlichste Begebenheit, in die ich dort je geraten wäre:



2 | Fische in der U-Bahn


Da saß ich also, wie fast jeden Abend in der U-Bahn auf dem Rückweg vom Büro nach Hause, als am Bahnhof Lehel ein älterer Mann zustieg, der vor sich in beiden großen Händen einen durchsichtigen Plastikbeutel trug. Es war auf den ersten Blick zu erkennen, dass hinter der dünnen aufgeblähten Folie eine Flüssigkeit schwabbte. Der Mann wankte etwas und steuerte ohne die Augen vom Beutel zu lassen, auf mein Abteil zu. Als der Zug mit einem Ruck anfuhr, flammte kurz Panik im Gesicht des Mannes auf - und in meinem wohl auch - doch im Anfahren des Zuges plumpste er ungelenk, statt auf mich, mit einem leisen Fluch auf die Bank mir gegenüber. Der Beutel landete schwer in seinem Schoß und ich hatte große Sorge, dass er platzen würde. Der kompakt gebaute Mensch musterte den Beutel vor seinem runden Bauch mit einem Blick, der für mich schwer einzuordnen war. Es war ein väterliches und zugleich kritisches Gesicht, in seinen Augen aber zeigte sich deutlich eine tief besorgte Traurigkeit. Nun erkannte ich, was wohl der Grund für die Sorge war: im Beutel schwammen kleine blassbunte Fische, vielleicht fünf, sechs an der Zahl, genau war es von meinem Platz aus nicht auszumachen. Nach zwei weiteren Stationen, während der Fahrt ließ der Mann die Fische nicht für einen Moment aus den Augen, setzte sich ein weiterer Fahrgast neben mich in unser Abteil. Der Zugestiegene mochte ebenfalls um die sechzig Jahre alt sein, jedoch besser gekleidet und insgesamt etwas kantiger, straffer, wenn auch kaum weniger beleibt, als sein Gegenüber. Der blickte nur kurz und abweisend auf, um dann in scheinbar noch größerer Sorge wieder seine Fische zu betrachten. Mein Sitznachbar musterte nun ebenfalls aufmerksam den Wasserbeutel. Er wollte gerade das Wort erheben, als ein kurzer, scharfer Blick des Beutelträgers den Versuch beendete. Der Nachbar schaute dann zu mir und sagte mit kaum unterdrückter Stimme "Sind ausgeblichen, die Fische." Unser Gegenüber ignorierte den Satz und mein Nachbar war nun nicht mehr zu halten: "Ich erlebe das immer wieder, dass Wasser ist zu basisch oder hat zuwenig CO2 und schon färben sie aus." Unser Gegenüber schaute nun kurz mit spöttischem Mund auf und sprach zu seinen Fischen: "Aha, ein Experte. Kinderlein, den haben wir jetzt noch gebraucht. Weil mir haben ja überhaupt keine Idee, was hier wohl im Beutel schwimmt. Ausfärben tut's, ihr ärmsten? Seit's vielleicht Korallen und gar keine Fische nicht?" Mein Nachbar schüttelte energisch den Kopf und sagte: "Erstens sind das Neons und zweitens, wenn die blass sind, dann sind meistens die Wasserwerte die Ursache." "Ja welch ein Glück", sprach mein Gegenüber wieder zu seinen Fischen, "ihr seid's gar keine Korallen nicht, sondern Fische." Nun wurde mein Nachbar wütend und entgegnete, den Zeigefinger auf den Beutel gerichtet: "Hören Sie zu, ich bin der erste Vorsitzende der Manchinger Aquaristen und die Paracheirodon innesi, die Sie da in Ihrer Tüte quälen ..." der Mann kam dem Beutel mit seinem Zeigefinger nun bedohlich nahe, für den Beutelträger offensichtlich zu bedrohlich: Das zarte Behältnis drohte zu platzen, als es sein Besitzer mit der einen Hand schützend gegen seinen Bauch presste und mit der anderen die Hand des Nachbarn fortschlug. Der sprang nun auf und schrie: "Was für ein Gewaltmensch! Man sollte ihm die Fische wegnehmen!" Der Zug donnerte über eine Weiche und mit dem Schwanken des Zuges drohte mein Nachbar erst auf mich, dann auf die Fische zu plumpsen. Es gelang mir, ihn am Rockzipfel zu packen und zurück auf seinen Platz zu ziehen. Nun richtete sich der Aquarienfreund auf und sprach mit bebender Stimme: "Erstens handelt es sich hier um Paracheirodon axelrodi. Und zweitens ist das Wasser vollkommen in Ordnung! Und drittens," schnaubte der Mann und mit ihm geriet der Beutel wieder in heftige Bewegung und die Fischlein stoben wild durcheinander, "und drittens haben die die Neonkrankheit und wenn's Sera nicht anschlägt, sind's morgen alle tot, Sie aufgeplusterter Vogel, Sie!" Mein Nachbar beugte sich nun vorsichtig vor, musterte die Fische erneut, lehnte sich wieder zurück und raunte mir zu: "Tja, da kann selbst ich nichts mehr tun." Die weitere Fahrt verbrachten wir schweigend und mieden es, den Fischlein weitere Aufmerksamkeit zu widmen.


© Hans Georg Peters | texsicht.de | 09.06.2018 |