Kassel | 28.08.2022 | Der lokale Norden - 1. Teil

T20220828




1 | Ein unvoreingenommener Besuch der documenta fifteen war mir nicht mehr möglich, nachdem die Ausstellung seit den ersten Tagen nach der Eröffnung nur von einem Thema in den Medien begleitet wurde, Antisemitismus. Das Feuilleton der Leitmedien wie der Provinzblättchen, Kommentatoren jedweder Provenienz, Politiker aller Farben, Blogger, frei von jeder einschlägigen Expertise, also jeder, der die Gelegenheit sah, seine einwandfreie Gesinnung öffentlich empor zu heben, verdammte die Ausstellung, die Verantwortlichen und mal mehr, mal weniger verhohlen auch ihre Künstler. Was noch fehlte war nur, dass man den Juden selbst für die Maläse verantwortlich machte. Nun, viele Monate später, ist der Abschlussbericht des Gremiums zur fachwissenschaftlichen Begleitung der documenta fifteen (o. Datum) erschienen und öffnet den Blick auf das, was vollkommen untergegangen ist, nämlich die Kunst. Ich hatte im August drei von 32 Ausstellungsorten aufgesucht, die Documenta-Halle, das Fridericianum, die Karlsaue, in dieser Reihenfolge, wobei ich die documenta Halle nach dem Fridericianum ein zweites Mal besucht habe. Der übergreifende Eindruck, das Ambiente dieser Orte ergab eine sich letztlich meiner Urteilsfähigkeit entziehende Gemengelage von Wertstoffhof, Werkstatt und Atelierbetrieb - oder kurz gesagt: Viel habe ich wohl nicht verstanden und das machte mich nicht nur traurig sondern ausgesprochen wütend. Seit dem versuche ich mich den Kunstwerken zu nähern, davon will ich hier und in folgenden Stücken berichten, denn der nun erschienene Abschlussbericht ermutigt, ja fordert gerade zu auf, sich endlich dem Ziel der Ausstellung zu widmen. Begonnen habe ich das Unternehmen gleich nach dem Ausstellungsbesuch mit einer aus meiner Wut entstandenen Collage unter sicher missbräuchlicher, dem Frevel kultureller Aneignung sich schuldig machenden Verwendung und eine riskante Bildsprache gebrauchende Übermalung des Gemäldes White Cat (2021) von Lazarus Tumbuti des Wajukuu Art Project, das in der documenta Halle ausgestellt war. Nach der im Kielwasser der Documenta in München vielen vollkommen unverständlichen Absetzung des Theaterstücks Vögel scheint sich mir aber der Gedanke zu bestätigen, dass man unsere jüdischen Mitbürger wird noch vor unserer eigenen Selbstzensur beschützen müssen, denn aus dem Kulturfuror, der dem deutschen Wesen wohl trotz aller Katastrophen, die wir damit verursacht haben, einfach nicht auszutreiben ist, wird am Ende, so ist es zu fürchten, auch wieder nur neuer Hass auf die Juden entstehen. Die ersten Stimmen dieser Art haben es bereits in den Bundestag geschafft.


2 | Ich beschäftige mich zwar seit meinem Studium der Literatur, Geschichte und Philosophie mit der Frage, was Schönheit ist, aber ich bin weder umfassend mit Kunstgeschichte noch mit der Interpretation der Werke der bildenden Kunst vertraut. Mein Blick auf die Gegenstände orientiert sich daher am hier einschlägigen Begriffsgebrauch sowohl der Alltagssprache als auch in den Codes verschiedener Wissenschaften. Ausgangspunkt meines Versuchs, sich der Kunst des globalen Südens zu nähern ist die lumbung-Praxis, welche das Kuratorium-Kollektiv ruangrupa zur Grundlage der Ausstellung machte, denn es bricht in grundsätzlicher Weise mit den Gewohnheiten der Kunstrezeption, wie sie bisher die documenta als auch unsere Ausstellungsverfahren in aller Regel umgesetzt haben. Es geht hier weniger um bildende Kunst im Sinne von Objekten oder Performances, deren Betrachtung was auch immer an Erlebnis, Erfahrung oder Erkenntnis ermöglichen soll, sondern es geht lumbung um Teilhabe und hier zudem um Teilhabe an einer uns exotischen Welt, an einer Art Alltag, in der Kunst vermutlich eine ganz andere Rolle, Bedeutung, Gebrauchspraxis einnimmt und ermöglicht, als wir es hier im globalen Norden kennen. Soweit mag meine Wahrnehmung der Ausstellungsorte sogar ein Erfolg im Sinne der Ausstellungsmacher gewesen sein. Was aber für mein Empfinden unbefriedigend war - von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen - ist das Fehlen eines ästhetischen Erlebens, ein Zugang zur Schönheit, ein Erfahren der Ausdrucksformen im Sinne eines Verstehens, eines Kennenlernens der gegenseitigen Verständigungsmöglichkeiten der Menschen des globalen Südens - wobei ich diesen Aspekt von Kunst grundsätzlich noch einmal ausarbeiten möchte, da er mir in Teilen noch immer ein Rätsel ist. Ich nehme an, dass es für meine wenig aufschlussreiche Begegnung mit den Ausstellungsgegenständen eine erhebliche Rolle gespielt hat, dass die Teilhabe an der lumbung-Praxis im Rahmen eines konventionellen Ausstellungsbesuchs kaum möglich erscheint. Man hätte - so meine Vermutung - mit den Künstlern eine Weile zusammenleben und vielleicht auch zusammenarbeiten müssen, um wirklich zu verstehen, wie Kunst im globalen Süden funktioniert. Daran schließen sich für mich zwei Fragen an, nämlich erstens, ob ein Ausstellungsbetrieb wie die Documenta überhaupt die Möglichkeit bietet, das gesetzte Ziel der Vermittlung der Kunst des globalen Südens zu erreichen, jedenfalls für den größten Teil der Besucher und zweitens, wie repräsentativ die Ausstellung war, denn der globale Süden ist groß und heterogen in jeder Hinsicht. Dessen ungeachtet möchte ich in weiteren Stücken trotzdem mit den genannten Werkzeugen den Versuch unternehmen, mir einige, der gezeigten Kunstwerke zugänglich zu machen.


Aktualisiert: 09.02.2023




Referenzen:

Liste: Ästhetik

Liste: Kunst und Kultur

Der lokale Norden - 2. Teil | # T20230520


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