Kandestederne | 10.08.2018 | Grenzgänger

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1 | Grenzerfahrungen


Als die Familie in diesem Sommer wieder nach Hulsig in Nordjütland reiste, begleitete uns eine skurrile Geschichte über einen Grenzzaun, mit dem sich Dänemark - so die offizielle Begründung - vor der Schweinepest schützen wollte, die etwa 300 Kilometer entfernt im Osten Europas beträchtlichen Schaden angerichtet hat. Und für Dänemark ist der Export von Schweinen und Schweinefleisch ein milliardenschweres Geschäft. Der eineinhalb Meter hohe Zaun an der dänisch-deutschen Grenze - so munkelte man indessen - war vielleicht mehr als Bollwerk gegen den Migrantenstrom gedacht, der aus Deutschland nach Norden drängen würde. Schließlich war die dänische Minderheitsregierung von der Duldung der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei abhängig. Trennend wirkte der Zaun bislang vor allem auf die Bewohner der Grenzregion, die sich in zwei Lager teilten, eben in Befürworter und Gegner der Idee. Wie dem auch sei, Fachleute für Wildschweine und Grenzschutz waren mehrheitlich der Meinung, dass gegen beide Invasionen ein solcher Zaun kaum Wirkung entfalten könnte. Tatsächlich wurden wir selbst an der Grenze auf dänischer Seite seit langer Zeit wieder erheblich durch Kontrollen aufgehalten. So nahm ich das Bild der Grenze mit in die Ferientage.



2 | An der See


Die Tage hier oben sind von einem seit Jahren unveränderten Rhythmus bestimmt. Der Vormittag gehört der Ostsee und am Nachmittag gehören wir der Nordsee. So ist es jedenfalls, wenn das Wetter und die vielen alternativen Verlockungen und Ereignisse nicht Anlass für Variationen dieses Themas geben: Einkaufen in Skagen, Hafenerkundungen, Museumsbesuche oder Besuche der Freunde. Trotzdem gibt es bei mir eine Konstante: Einmal am Tage oder wenigstens noch am Abend muss ich an die Nordsee bei Kandestederne, beginnend mit dem ersten Tag. Da stehe ich am Wasser bis das Auge dem Bild nicht mehr traut, dass der Horizont das Ende markiert. Dann bin ich angekommen, an der See. An manchen Tagen gehe ich an der äußersten Wasserlinie entlang, mal tauche ich mit den Füßen ins warme Wasser, mal in den kalten Sand. Der unstete Wind wirft mir Salz auf die Haut und legt sich fest auf meine Ohren. An anderen Tagen stoßen und zerren die Böen noch heftiger an mir, aus der Ferne rollen mächtige Wellen heran, doch laufen sie letztlich ganz sanft zu meinen Füßen aus. Aber schon am nächsten Nachmittag kann die See fast unheimlich still sein. Ich steige ins Wasser und die Kälte kriecht die Beine hoch. Der Einstieg ins Wasser gerät zur Mutprobe, wie peinlich, wie wunderbar. Das kalte Wasser umfasst mich eng, ich zwinge meinen Atem zur Ruhe. Ich zweifele, hält die Haut, halte ich die Kälte auf, oder hat mich das Wasser schon durchdrungen? Was passiert jetzt mit mir? Zur Antwort lege ich mich auf den Rücken, schließe die Augen und atme den Rhythmus der Wellen. Sie mag mich, die See, sie würde mir nie etwas antun. Ich lausche, da war ein Gurgeln hinter mir. Ich drehe mich um, klatsch, salziges Wasser fällt in den Mund. Ein neuer Tag. Der schwarzgraue Himmel schenkt dem Augenblick Bedeutung, wenn die Sonne ihren Lichtfächer über die See ausbreitet. Sattsehen. Bloß nichts verpassen. Und dort, das ferne Loch in den Wolken, das eine Insel aus Licht dem Meer enthebt. Ich will hinschwimmen, hinein. Warm muss es dort sein. Dann wieder Sturmtage, heute, jetzt: Spiel mit mir, Ringe mit mir. Die See brüllt und breitet ihre Arme aus und wirft mich nieder. Ich will mich erheben doch schwere Schläge holen mich wieder und wieder von den Füßen. Ich bin unsicher, wir spielen doch nur? Nun ist mein Kampfgeist erwacht, so nicht, nicht mit mir. Die See grollt und holt aus, doch ich stelle mich quer zu ihr. Sie schiebt, sie drückt, ich muss einen Schritt zurück, aber ich stehe. Nun rollt sie davon und ich werfe mich auf sie. Eine neue Runde? Sie türmt sich vor mir auf, aber ich tauche unter der Welle durch: Wie still es hier ist, wie warm. Das Licht hellgrün und samten der Grund. Nur äußerer Schein, das Toben da oben. Sie ist so sanft, die See, wenn ich ein Fisch nur wär.

Und dann gibt es die Tage, in denen der Himmel ins Meer fließt. Im Spiegel der Priele verläuft blaue und weiße Farbe in das Grau der See. Die Wolken ziehen unter mir durch und ich scheine zu schweben. Wenn ich hinaus blicke auf die unbestimmbare Ferne, dann verlieren die Möwen ihre Farbe und ihre Gestalt erreicht mich nicht mehr. Wenn ich hinaus blicke bis an das ferne, weite Band, dann geht seine Form verloren und alle Formen, die es hielt. War dort nicht ein Schiff? Wo kein Gegenstand dem Auge sicher ist, da ist nichts mehr sicher. Wenn die Weite des Horizonts die Vorstellung unmöglich macht, das Wasser könnte je enden, dann stehe ich plötzlich nicht mehr an der See sondern am Rand einer Insel. Und es schleicht sich von hinten die Gewissheit heran, dass ich die Insel nie mehr verlassen kann. Wenn ich schließlich zurück durch die Dünen gehe und das Auge neuen Halt am Boden sucht, dann erzählt mir jedes der vielen bunten Plastikfragmente, die der Wind aus dem Meer bis in die Dünen weht und diese nun bevölkern wie Kieselsteine den Strand, die immer gleiche Geschichte: Ja, Du bewohnst eine Insel, sie mag groß sein und noch größer das Meer, das sie umfängt, aber klein, sehr klein ist das Erdenrund. Es scheint keine sinnlosere Frage zu geben als die, wo die Insel aufhört und das Meer anfängt.



3 | Auf Abstand


Die Ferienhäuser hier oben stehen zumeist auf sehr weitem Grund, nicht selten zehntausend Quadratmeter groß und mehr. Man hält Abstand und schätzt die Ruhe, die Abwesenheit. Und die Abwesenheit ist eben so groß, dass man auf trennende Zäune oder Hecken zwischen den Häusern gerne verzichtet hat. Dagegen wohnt in den Häusern die Nähe selbst. Menschliche Wärme empfängt Dich, obgleich das Haus mag über Monate verlassen gewesen sein. Menschenfreundlichkeit lächelt Dir entgegen, trittst Du über seine Schwelle. Und das Haus spricht zur Dir: Das Leben ist licht und leicht. Sei hell und sanft und zugewandt. Denn die Grenzen sind weit.
Erst kurz vor der Abreise fiel mir auf, dass auch die Häuser auf den Ortseingangsschildern auf Abstand gegangen sind. Früher standen sie eng verbunden aneinander, in einer Landschaft, die am Ausgang zweier Meere offener nicht sein könnte.




Aktualisiert: 14.01.2019




Referenzen:

Liste: Ästhetik

Liste: Hulsig

Liste: Reisen und Orte


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