Wien | 29.03.2018 | Die Geistige Heimat auf der Flucht
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1 | Die Wiener Moderne, Stefan Zweig und die Welt von heute. Ein Ausstellungsbesuch in Wien
Stefan Zweig entschied bereits unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges, seinen persönlichen Krieg zu beginnen: den Kampf gegen den Verrat der Vernunft an die aktuelle Massenleidenschaft (Zweig, Die Welt von Gestern, Frankfurt a. M. 2017, S. 257). Zweig verlor schließlich seinen Krieg und Europa verlor seine geistige Mitte, die mit der Flucht von Künstlern und Wissenschaftlern und dem Massenmord an den europäischen Juden ausgelöscht wurde. Westeuropa ist seit der Mitte des 20. Jahrhunderts Teil der US-amarikanischen Zivilisation und spätestens seit der Jahrtausendwende gilt dies für ganz Europa. Dieser Kulturraum, der Westen, ist in einer Phase beschleunigter und teils dramatischer Umbrüche. Wenn ich im Folgenden unsere heutige geistige Lage betrachte und mit jener goldenen Zeit der Wiener Moderne vergleiche, die dieses Jahr in großen Ausstellungen in Wien gefeiert wird, kann ich nachempfinden, warum viele Menschen einen elementaren Verlust und Unsicherheit verspüren. Und es beginnen gespensterhaft Fragen aufzutauchen, inwieweit zum Beispiel der seinerzeit überaus beliebte Wiener Bürgermeister Dr. Karl Lueger in seinen demagogischen Massenansprachen mit einem Herrn Meuthen, Höcke oder Gauland verglichen werden kann und ob wir fürchten müssen, dass in der Menge irgend einer PEGIDA-Versammlung wieder jemand seine wahnhaften Gedanken entwickelt und später grausame Wirklichkeit werden lässt. Natürlich ist jede historische Situation eine andere, ein zweiter Hitler ist derzeit nicht zu befürchten und der Antisemitismus eines Dr. Karl Lueger ist derzeit nicht vergleichbar mit dem Antiislamismus der sich abzeichnenden AfD/CSU-Fraktion. Kreuze in die Eingänge öffentlicher Gebäude zu nageln ist natürlich eine subtilere Art der Ausgrenzung von Juden und Muslimen und Nichtgläubigen als ein Satz wie: Es handelt sich uns darum, in Österreich vor allem um die Befreiung des christlichen Volkes aus der Vorherrschaft des Judentums (Lueger in einer Rede am 20.07.1899, zitiert aus Weiningers Nacht, Europa-Verlag, Wien 1989). Auffällig sind jedoch folgende Parallelen: Erstens, die Gesellschaften Europas wurden von einem Globalisierungsschub tief verunsichert, der mit der Industrialisierung, dem Aufkommen der ersten Massenmedien und einer freien Presse die Lebensverhältnisse in den Köpfen wie in der sozialen Wirklichkeit umstürzte. Stefan Zweig vergleicht diese Phase mit der Renaissance: Innerhalb einer einzigen Generation haben die Urelemente menschlicher Anschauung, haben Raum und Zeit völlig andere Maße und Werte bekommen - nur unsere Jahrhundertwende mit der ebenso plötzlich sich überbietenden Raum- und Zeitverkürzung durch Telephon, Radio, Auto und Flugzeug hat die gleiche Umwertung des Lebensrhythmus durch Erfindung und Entdeckung erfahren. Eine derart plötzliche Erweiterung des äußeren Weltraums muss selbstverständlich eine gleich heftige Umschaltung im Seelenraum zur Folge haben. Jeder einzelne ist unvermutet genötigt, in anderen Dimensionen zu denken, zu rechnen, zu leben; aber ehe das Gehirn sich der kaum fassbaren Verwandlung angepasst hat, verwandelt sich schon das Gefühl - eine ratlose Verwirrung, halb Angst, halb enthusiastischer Taumel, ist immer die erste Antwort auf die Seele, wenn sie ihr Maß plötzlich verliert, wenn alle Normen und Formen, auf denen sie als auf einem bisher Beständigen fußte, gespenstig unter ihr weggleiten (Zweig, Erasmus von Rotterdam, 1934, Berlin 2017, S. 23f.). Es scheint mir naheliegend, dass die großen Veränderungen unserer Epoche auf uns ähnlich wirken müssen: Die wirtschaftliche Globalisierung erzeugt eine wachsende Ungleichheit zwischen Menschen, die auf der einen Seite kein stabiles berufliches Umfeld mehr finden und auf der anderen Seite Reichtum in nie gekanntem Ausmaß anhäufen. Die durch das Internet und die sozialen Medien aufgezwungene Präsenz von Krisen und Kriegen aus aller Welt dringt in all unseren Lebensnischen. Die Verwerfungen und Entwicklungen der Geschlechterrollen und Geschlechteridentitäten zwingen unseren persönlichsten, innersten Einstellungen Veränderungen auf. Tägliche neue Erkenntnisse der Wissenschaft, insbesondere unsere Umwelt und unsere Gesundheit betreffend, fordern fortlaufende Anpassungen unserer alltäglichsten Lebensroutinen: unsere Art zu reisen, zu speisen, zu arbeiten oder einfach nur ein wenig das Leben genießen zu wollen. Wirklich kein Lebensbereich scheint von fundamentalen und fortlaufenden Umwälzungen verschont zu sein. Die zweite Parallele ist die folgende: Sowenig wie Juden der vorletzten Jahrhundertwende verantwortlich waren für diese erste Globalisierung, sowenig sind heute Juden oder Muslime verantwortlich für die genannten, tief in unser Leben eindringenden Folgen der zweiten Globalisierung. Und trotzdem richtet sich wieder Ablehnung, ja Hass auf Minderheiten, welche man rassisch oder religiös oder kulturell als andersartig ablehnt, wenn nicht als minderwertig verachtet. Und wo es nicht die Juden oder die Muslime sind, da blühen Verschwörungstheorien, da wird von einem deep state oder der Lügenpresse gemutmaßt. Die Vielfalt der neuen Medien mit ihrem individuellen Zugang eines Jeden zu Jedem scheint einher zugehen mit einer nie dagewesenen Vielfalt der Ressentiments. Und eine dritte Parallele fällt auf: Die Schuldzuweisungen und Verschwörungsvorstellungen entwickeln sich gestern wie heute in einem geistigen Milieu, welches kulturell und ästhetisch vorzugsweise eher in die Vergangenheit schaut denn nach vorne, um sich dort zu orientieren, um in früheren Zeiten Halt zu finden.
2 | Anspruch und Wirklichkeit: Stefan Zweigs Analyse der Rolle der Intellektuellen
Die Wiener Moderne war geprägt vom Zusammenspiel einer künstlerischen und wissenschaftlichen Elite, die optimistisch die neuen Freiheiten als Chancen erkannte und stolz war auf ihre Erkenntnisse und Fortschritte in Wissenschaft und Technik und auf die neuen Wege in Kunst und Kultur. ... dieser Glaube an den ununterbrochenen, unaufhaltsamen "Fortschritt" hatte für jenes Zeitalter wahrhaftig die Kraft einer Religion; man glaubte an diesen "Fortschritt" schon mehr als an die Bibel, und sein Evangelium schien unumstößlich bewiesen durch die täglich neuen Wunder der Wissenschaft und der Technik. (Zweig, Die Welt von Gestern, S. 19) Diese kulturelle Blütezeit in Wien war aber auch geprägt von einem sozialen wie geistigen Abstand der Eliten zur Lebenswirklichkeit jener Handwerker, Arbeiter und Kleinbürger, um die sich erfolgreich ein Dr. Karl Lueger kümmerte und um die heute mit wachsendem Erfolg die neue Rechte wirbt. Stefan Zweig hat 1934 in seinem Essay über Erasmus und die Humanisten das Problem in einer Weise zusammengefasst, dass auch die heutige Kluft zwischen den Intellektuellen und breiten gesellschaftlichen Schichten beschreibt: Blickt man näher zu, so ist bei ihnen statt des alten Adelshochmuts nur ein neuer gesetzt, jener dann durch drei Jahrhunderte wirkende akademische Dünkel, der einzig dem Lateinmenschen, dem Universitätsgebildeten, den Anspruch zuerkennt, über Recht und Unrecht, über sittlich und unsittlich zu entscheiden. (...) (D)er organische Grundfehler des Humanismus war, dass er von oben herab das Volk belehren wollte, statt zu versuchen, es zu verstehen und von ihm zu lernen (ebd., S. 95ff.). Das, was Zweig den Lateinmenschen nannte, entspricht heute den englisch dominierten Fachsprachen und den komplexen Regelwerken des politisch korrekten Ausdrucks (und konsequenterweise scheint der Ausdruck political correctness in der neuen Rechten größten Widerwillen auszulösen). Und ein zweites Übel im Verhältnis der intellektuellen Eliten zu den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen hat Zweig in seinem Montaigne-Essay von 1942, kurz vor seinem Freitod angesprochen: Den engen Zusammenhang intellektueller Motivation und Wesensart mit ihrem Mangel an klarer und entschiedener Positionierung: Er hätte gelächelt über den Gedanken, etwas so Persönliches wie innere Freiheit auf andere Menschen und gar auf Massen übertragen zu wollen, und die professionellen Weltverbesserer, die Theoretiker und Überzeugungsverschleißer hat er aus dem innersten Grunde seiner Seele gehasst. Er wusste zu gut, eine wie ungeheure Aufgabe schon allein dies bedeutete: in sich selbst innere Selbständigkeit zu bewahren. (Zweig, Montaigne, 1942, Berlin 2017, S. 205)
3 | Die Antworten von Gestern auf die Fragen von Heute
Es ist sicher stark verkürzt aber dennoch vielleicht nicht ganz falsch, festzustellen, dass sowenig, wie der Wiener soziale Wohnungsbau, die Sozialhäuser und vieles mehr gereicht haben, den Austrofaschismus und dann noch viel Furchtbareres zu verhindern, der nun wieder entdeckte soziale Wohnungsbau unserer Tage, oder die Idee, man muss nur den Autoverkauf unter allen Umständen fördern, das Erstarken der neuen Rechten eindämmen könnten. Und Muslime ihrer Religion zu berauben, Juden und Nichtgläubige in öffentlichen Gebäuden symbolisch ihnen ihre heimatliche Verwurzelung abzusprechen, wie es derzeit in Bayern geschieht - dies wird ebenso wenig etwas zur Lösung der Überforderung wachsender gesellschaftlicher Teile durch die Globalisierung beitragen. Die Aufgabe der Politik ist, zu ermöglichen, dass nicht nur eine kleine Elite oder eine potentielle Wählergruppe erfolgreich Lebensinhalte und -Richtung entwickeln und bestimmen können, sondern möglichst alle Bürgerinnen und Bürger. Die Frage ist, wie das gesellschaftliche Gespräch so ausgeweitet werden kann, dass mindestens der demokratische Konsens nicht gefährdet ist? Eine typische Antwort lautet: durch Bildung. Doch schon Stefan Zweig hat das Bildungsideal vergangener Epochen als nicht ausreichend erachtet und vergleicht man den Bildungsstand heutiger Wutbürger mit denen der Vergangenheit, so wird man skeptisch bleiben müssen, ob Bildung alleine ausreichend ist. Und auch die selbsterklärten Volksversteher der AfD/CSU bedienen zwar Stimmungslagen, aber man darf fragen, ob Kruzifixe tatsächlich der Integration von Muslimen dienen oder ob eine Leitkulturdebatte uns beim Umgang mit einem globalisierten Steuerwettbewerb hilft, der weit mehr zur sozialen Unsicherheit beiträgt als Kopftücher.
4 | Die Kunst von Gestern mit Antworten für Heute?
Wo aber bleibt die heutige Antwort aus Kunst und Kultur? Was kann das immer lautere Schweigen unserer Dichter und Denker beenden helfen, in deren Fokus wohl eher die Frage zu stehen scheint, ob ich nicht hätte Dichter*innen und Denker*innen schreiben müssen? Die gegenwärtige Gender-Diskussion ist nur ein Beispiel für einerseits notwendige und mühsame Debatten intellektueller Kreise, die aber andererseits für die gegenwärtige Krise der westlichen Demokratien wenig relevant sind. Ausgehend von dem Erlebnis der vor Kreativität und Innovationskraft strotzenden Wiener Moderne, wie es uns die gegenwärtigen Ausstellungen und Veranstaltungen in Wien ermöglichen, drängt sich die natürlich immer schwierige Frage auf, ob aus dieser Epoche, ihrer Kunst und der Geisteshaltung ihrer Protagonisten für die heutige Krise etwas zu gewinnen ist, vielleicht auch etwas, das damals nicht möglich war. Bei den vielen Deutungen über die Ursachen dieser Blütezeit der Dichtung, der bildenden Künste und der Musik, scheinen mir drei Dinge im Fokus zu stehen: Erstens die rasch wachsende Großstadt als Ideenschmiede, zweitens die Vielfalt der kulturellen Milieus, die sich in Wien begegnen konnten und drittens der Widerstand, die Emanzipationsbewegung einer bürgerlichen Schicht gegen die Autorität der Monarchie, wie der Kirche. Betrachten wir die heutige Situation, so scheint es weitere Parallelen zu geben: der Zulauf in die Großstädte, die kulturelle Dynamik und Vielfalt durch Migration, aber auch durch das Auseinanderlaufen der sozialen Bindungs- und Identitätsräume, welches durch die ökonomischen Folgen von Globalisierung und Digitalisierung verursacht wird. Demgegenüber scheint es einen historischen Unterschied zu geben, nämlich die Unsichtbarkeit und daher Ungreifbarkeit einer Autorität, gegen die man sich wenden könnte. Mehr noch, es scheint nicht einmal klar zu sein, was die Ängste und den Protest auslöst, die die Menschen in die Arme der neuen Rechten treiben, betrachtet man zum Beispiel die gegenläufige Entwicklung von wachsender subjektiver Angst vor Kriminalität und sinkenden Kriminalitätsraten oder von gefühlter sozialer Unsicherheit und fallenden Arbeitslosenquoten. Vielleicht ist es eine Folge genau dieser Vagheit und der Unsichtbarkeit eines Gegners, die nicht nur Fremdenhass und Verschwörungstheorien befördern, sondern auch, dass sich Kunst und Kultur nicht organisieren, keine gemeinsame Stoßrichtung, kein Thema, kein gemeinsames Projekt entwickeln können und statt dessen fast ausnahmslos in einem diskursfreien Raum experimentieren, dass sie also vereinzelt auftreten und die schon immer vage Aussicht auf Einfluss in das gesellschaftliche Geschehen dabei noch unwahrscheinlicher wird. Angeregt aus der heutigen Begegnung mit Klimt und Schiele, Zweig und Mach, Mahler und Schönberg erscheint mir auf der Suche nach einer Antwort von Kunst und Kultur auf die heutige Krise interessant, dass ein Fokus der Wiener Moderne, nämlich die Hinwendung zum Subjekt und die Bedingungen seiner Identität, seines Selbstgefühls (Zweig, Erasmus, S. 26) ein Ansatz sein könnte, wie wir, wie die Kunst auf die gegenwärtige Krise reagieren könnten. Wem gewähre ich Einfluss darauf, was mir wichtig ist, warum fürchte ich, was ich fürchte oder ist das, was ich fordern soll, wirklich das, was ich will? Sind es nicht diese ersten Fragen, die wir, die jeder sich selbst beantworten können muss, um auf die genannten Herausforderungen so reagieren zu können, dass es hilfreich ist für einen selbst und für die Gemeinschaft, in der wir leben? Kunst kann weder diese Fragen beantworten, noch hat Kunst die Aufgabe, soziale oder politische Probleme zu lösen. Aber sie kann helfen, die Bedingungen unserer Existenz sichtbar zumachen, eine Haltung zu vermitteln, aus der heraus Lösungen möglich werden. Die Wiener Moderne, so habe ich ihren gegenwärtig am Ort zu vernehmenden Nachklang wahrgenommen, hat den ihr möglichen Beitrag geleistet, indem sie unser Bild von uns selbst unserer Verfügbarkeit zurückgeben wollte. Es mag sein, dass vor einhundert Jahren zu wenige Menschen bereit und fähig waren, dieses Geschenk anzunehmen. Wie es im Zeitalter von Selfies und dem erstarken narzisstischer Potentaten auch in westlichen Demokratien um diese Fähigkeit bestellt wäre, könnte sich bald zeigen. Nur leider hat man von solchen Möglichkeiten der Kunst und Kultur in der gegenwärtigen Zeit wenig gesehen oder gelesen. Sind wir hier klüger geworden oder nur mutlos oder gar einfallslos?
Aktualisiert: 13.05.2018
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